PANNONHALMA
Tagebuch II
First things first: Das Frühstück bestand diesen Donnerstag wieder aus einem Paar Würstchen. Das macht es für mich zwar nicht zu einer weniger kuriosen Wahl als morgendliches Essen, der Effekt der letzten Woche war aber wohl nicht als solcher intendiert, also nur für mich als Neuankömmling ein so komischer. Ich beobachte weiter. Leider werde ich keine ausgedehnten Studien mehr anstellen können. Meine Tage hier sind gezählt. Was bleibt ist ételmaradék. Essensreste. Das Wort schiebt sich mittels des dafür vorgesehenen, groß beschrifteten Behälters im Speisesaal jeden Tag dreimal in mein Blickfeld. Ob das ein wirklich brauchbares Vokabel ist, weiß ich nicht. Systematisch lerne ich hier allemal nicht. Mittlerweile kann ich immerhin die Kassiererin im örtlichen Supermarkt per szia und köszönöm kurzfristig über meine Ahnungslosigkeit hinwegtäuschen. Der Triumph der geglückten Integration währt allerdings nur kurz. Hole ich mir Nachschub an Olaszrizling aus dem Ort, muss ich mein Laster jedes Mal bereits vorab mit dem steilen Anstieg den Klosterhügel zurück hinauf abbüßen, der mich keuchend auf jedem verfügbaren Bänkchen Rast machen lässt. Fitness, sagt Pater Elréd und grinst.
Es ist ein luxuriöses Leben hier, schreibe ich einer Freundin, die sich nach meinem Befinden erkundigt. Bereits während ich es tippe, kommt mir die Bezeichnung seltsam vor. Mit Luxus würde man das Klosterleben wahrscheinlich nicht unbedingt assoziieren. Eher im Gegenteil, mit Askese. Tatsächlich ist es jedoch weder ein Gefühl des Überflusses noch des Verzichts, das ich hier bekomme.
Einmal abgesehen davon, dass mich die Beschaffenheit der Gemäuer um mich herum nach wie vor beständig in ein kleines innerliches Jubilieren versetzt, und ich die Ruhe und den Woolfschen room of my own genieße, ist es vielleicht gerade die Mitte dessen, der Status eines unaufgeregten Umsorgtseins, der mich meinen Aufenthalt als etwas so Exquisites erleben lässt. Es mangelt mir nicht nur an nichts. Es ist für die Dinge gesorgt. Das Essen ist gekocht, das Bett bezogen. Das sind nicht nur in Zeiten wie diesen – die Nachrichten rund um die Ukraine werden mit jedem Tag schrecklicher –, sondern ganz allgemein große Annehmlichkeiten.
Was mir – als sonst bekennender Städterin – oben drauf besondere Freude macht, ist das zum Kloster gehörende Arboretum, eine Mischung aus Wäldchen und botanischem Garten mit angelagertem Lavendelfeld, in dessen verschlungenen Wegen man sich vortrefflich treiben lassen kann. Wochentags bin ich dort oft ganz für mich, streichle eine der herumstreunenden Katzen, schlendere vorbei an Pinien und Bambus bis ins Unterholz, hinunter zum schuleigenen Fußballplatz, retour vorbei am Labyrinth und der ehemaligen Kegelbahn der Mönche, sage Hallo zu Maria unter dem Efeu und höre ansonsten nur die Spechte klopfen.
Überhaupt die Aussicht. Die Landschaft. Die Bäume vor meinem Fenster. Einer wird nächste Woche gefällt, er ist weit über 100 Jahre alt. Es schmerzt, sagt Pater Elréd. Der Baum ist kaputt, wie auch viele Pflanzen im Arboretum, weil es viel zu wenig regnet. Nur wenig Regen in Sicht: März zu kalt und zu trocken, lautet dann auch eine Schlagzeile in den österreichischen Nachrichten, die ich online lese.
Tanktourismus nach Ungarn, lautet eine andere. Die Benzinpreise steigen. Die Menschen fahren zum Tanken über die Grenze. Wenig später erfahre ich, dass es in der ganzen Umgebung von Pannonhalma kein Benzin mehr gibt. Benzinkrieg, sagt Pater Elréd.
Die Spaziergänge mit dem Pater werden zu einer schönen Gewohnheit. Selbst wenn ich an einem Tag bereits ausgiebig an der Luft war, freue ich mich jedes Mal über sein Klopfen an der Zimmertür und die gemeinsamen Abstecher nach Draußen. So erfahre ich ein wenig über den Alltag hier – Pater Elréd sorgt währenddessen auch wie Nebenbei dafür, dass ich immer wieder etwas Neues zu sehen bekomme. Ob er mir nun die Klosterhündin vorstellt, die ihm freudig einen Fußball apportiert, oder ob er extra von der Pforte einen großen alten Schüssel holt, um für mich die nahegelegene Kapelle Unserer Lieben Frau aufzusperren. Einmal machen wir sogar einen Ausflug nach Győr. Wir setzen uns in ein kleines weißes Auto, Pater Elréd bekreuzigt sich, macht im Radio Bartók an, und los geht es über eine rumplige Landstraße, die den Pater nicht weiter zu beeindrucken scheint, mir aber Ehrfurcht vor seinen Fahrkünsten einflößt. Wir besichtigen die barocke Jesuitenkirche am Széchenyi Platz und die angelagerte Apotheke mit ihrem prunkvollen Stuckgewölbe sowie die Kathedrale mit dem irischen Gnadenbild von Maria mit dem Kind. Pater Elréd ist ein engagierter Tourguide, der mir auch hier Tür und Tor öffnet und unermüdlich die Ikonographie sämtlicher Altäre erklärt. Als wir auf dem Weg zu den Flüssen sind – in Győr mündet die Raab in die Kleine Donau –, kommen wir an einem Autodrom vorbei. Pater Elréd bleibt vor dem Fahrgeschäft stehen und lächelt versonnen. Dass er das als Junge sehr gerne gemacht habe, meint er schließlich, und dass er im Frühling oder Sommer hier unbedingt mit seinem Patenkind herkommen möchte, um ein paar Runden zu drehen.
WhatsApp-Nachricht von Pater Konrád. Ob ich die frisch installierte Ausstellung für den Benediktustag am 21. März vielleicht vorab sehen möchte, der Kurator ist auch noch da. Natürlich möchte ich. Auf dem Weg zu den Ausstellungsräumlichkeiten passieren wir eine Reihe von Kästen, die eben aufgestellt wurden. Es riecht nach Holz. Pater Konrád zieht eine Schublade auf, aus der uns einige Stücke der Mineraliensammlung aus dem 18. Jahrhundert, die kürzlich wiederentdeckt wurde, entgegenfunkeln. Und dort steht unser neuester Schatz, sagt er, und weist zur Bibliothek. Eine alte Orgel, ebenfalls irgendwo im Haus aufgefunden, die frisch restauriert dort nun ihren Platz gefunden hat. Bei der Ausstellung für den Benediktustag handelt es sich dann jedoch um verschiedene Positionen zeitgenössischer ungarischer Kunst zum Thema Neubeginn. Auch eine der Künstlerinnen ist noch da. Sie bringt gerade Glasplatten an einer Wand an, auf denen sich Fotos von Fläschen mit abgepumpter Milch befinden. Es ist ein sehr persönliches Projekt, ihr Sohn kam zu früh auf die Welt. Daneben finden sich Arbeiten, die etwa eine Monstranz und das Nordlicht, oder Paartherapie, Sesseltürme und schwarze Dreiecke verknüpfen. Auch die Schüler sind eingebunden. Sie haben zusammen mit einer Künstlerin ein Video produziert, das ebenfalls gezeigt werden wird. Der Bildschirm dafür hängt bereits an der Wand.
Mittwochmorgen gebe ich der Journalistin einer Regionalzeitung ein Interview. Das Residenzprogramm soll vorgestellt werden. Was mich inspiriert, fragt die Journalistin auf Englisch, und warum ich den Text nicht dort schreibe, wo er spielt. Dass Distanz dem Schreiben oft gut tut, sage ich und bin gespannt, wie sich das auf Ungarisch lesen wird. Der ebenfalls zu diesem Zweck erschienene Fotograf soll ein Bild von mir bei der Arbeit machen. Ich zeige ihm mein Zimmer und setze mich an den Schreibtisch. You better open a Word document, sagt er, als auf meinem Bildschirm der Internetbrowser mit dem Instagram-Feed sichtbar wird, and pretend you’re writing. Hätte ich nicht dieses Interview, würde ich längst tatsächlich in ein Word-Dokument tippen, denke ich, tue wie mir geheißen, lege meine Finger auf die Tastatur und lächle in die Kamera.
Pater Elréd bringt mir ein Schälchen Tomaten. Ein bisschen Paradies, sagt er. Paradicsom. Paradeiser. Das Ungarische und der Dialekt meiner Kindheit berühren sich. Wo ich aufgewachsen bin, werde ich gefragt. Ich halte einen Moment inne. Normalerweise wäre die Überlegung, welche Stadt in der Nähe meiner Heimatgemeinde groß genug ist, um meinem Gegenüber bekannt sein zu können. In der Nähe von Seitenstetten, sage ich schließlich. Ah, Seitenstetten!, wird mir entgegnet. Seitenstetten ist ein kleiner niederösterreichischer Ort mit 3.000 Einwohnern. In Seitenstetten ist ein Benediktinerkloster. Die Relevanz der Referenzpunkte verschiebt sich.
Am Dienstag ist Feiertag. Die Gymnasiasten sind über das verlängerte Wochenende zu ihren Familien gefahren. Eine Meditationsgruppe kommt an. Ich benutze meinen Schlüssel. Die menschenleere Basilika wird von der Abendsonne in ein mystisches Licht getaucht. Heute Vormittag erschrak die singende Putzfrau, als sie mich plötzlich in einem der Kirchenstühle entdeckte. Sie redete auf Ungarisch auf mich ein und lächelte. Ich lächelte zurück.