Ankommen. Aber ich komme nicht los vom Live-Ticker, den Nachrichtensendungen, den Bildern.
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Versuche einen Anfang. Hier sein. In Pécs sein. Im Moment sein. Herausfinden, was diesen Moment ausmacht und aufschreiben, schreiben.
In meiner näheren Umgebung nehme ich mehr und mehr Details wahr. Anfang März sind Brunnen und Figuren auf dem Areal des Zsolnay Kulturzentrums (einer ehemaligen Porzellanfabrik) noch im Winterschutz. Die einen verborgen in Holzverschlägen, die anderen durchscheinend in Plastikverhüllung. Vor meiner Eingangstür eine Reihe solcher in Plastik eingeschweißter Prinzen. (Eine Art Umkehrung: die Prinzen im Dornröschenschlaf…)
Außerdem Fabrikschlote, ziegelfarben, manche mit Mustern verziert, dekoriert, das Dach des Gebäudes unterhalb mit bunten Keramikziegeln, angeordnet wie Drachenschuppen, die je nach Sonneneinfall glänzen und schillern. Der große Baum direkt vor meinen Fenstern. Strecke ich die Arme aus, kann ich die Zweige fast mit den Fingern berühren. Auf der anderen Seite des Apartments fällt der Blick in einen Innenhof. Ein Baum ist schon erblüht und trägt kleine, gelbliche Blüten, der zweite reicht schräg bis über den dritten Stock hinaus und ist dicht mit Efeu bewachsen. Ein paar Skulpturen und Gefäße stehen am Boden zwischen drei Baumstümpfen. Diese Bäume sind erst vor kurzem gefällt worden. Es liegen noch überall Äste und Sägemehl verstreut. Ich bedaure das Fällen, der Bäume wegen und meinetwegen. Es ist so, als wäre man zu spät gekommen, um die Bekanntschaft von jemanden zu machen, die Chance einer Begegnung vertan.
Dann große Freude, als ich ein Vogelnest schräg gegenüber vor einer vergitterten Fensternische unter dem Dach erspähe. Das Nest hat sehr hohe Wände. Welcher Vogel brütet hier? Im Moment wirkt es noch leer. Ab jetzt steht das Nest unter meiner Beobachtung.
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Mittags esse ich im nahen Bistro, eine Art Mensa. Ich stehe etwas ratlos vor dem Essensbuffet und bitte eine Frau vom Service um Auskunft. Sie ist sehr bemüht mir zu helfen und mit ihrem Smartphone übersetzt sie mir Speisen und Zutaten auf Englisch. Erbsensuppe, etwa. Darauf hätte ich der Farbe wegen selber kommen können.
Google-Translate wird mir die nächsten Tage gute Dienste erweisen. Auch besuche ich auf Youtube Ungarisch für Anfänger Schnellkurse. Weit komme ich nicht, aber ich lasse mir gerne ungarische Wörter abwechselnd von Männer- und Frauenstimmen vorsprechen, spreche sie nach, so gut ich die Nuancen heraushören kann. (kezdődik)
Was ich wiederholt höre, was zur Hintergrundgeräuschkulisse wird, während ich vor meinem Laptop sitze, an meinem Manuskript arbeite, E-Mails beantworte oder unmotiviert irgendjemand im Internet „stalke“ (Stop stalking start writing!), ist ein Zusammenspiel von Vogelgezwitscher und Musikproben aus dem Gebäude nebenan: Streich- und Blasinstrumente, Sänger und Sängerinnen, Klaviermusik, ganze Orchesterproben. In der Wohnung selbst: das Rauschen der Klimaanlage, die als Heizung dient, das Surren des Kühlschranks, das Ticken des mitgebrachten Weckers aus Wien.
Und immer wieder der Live-Ticker, die Nachrichtensendungen, die Bilder. Bilder, die bleiben werden: Zerbombte Wohnhäuser. Die U-Bahn in Kiew, wo sich Menschen in Sicherheit bringen, nur das Notwendigste dabei, Rucksäcke, kleine Taschen, eingemummt in Winterkleidung sitzen oder liegen sie auf mitgebrachten Decken in den kalten U-Bahnschächten, der Luftangriffe ausharrend. Es sind auch viele Kinder dort, die auf den Decken herumkrabbeln, mit Spielzeugautos spielen. Jemand hat mittendrin ein kleines Campingzelt aufgebaut, der Reißverschluss ist zugezogen. Oder die Bilder von Männern, die ihre Familien bis zur Landesgrenze begleiten, zusehen, dass ihre Frauen und Kinder sich in Sicherheit bringen, sich dann von ihnen trennen müssen, um zurück in den Krieg zu ziehen.
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Beim Spaziergang durch die Innenstadt muss ich an nichts denken und kann für eine Weile vergessen. Ich schaue einfach, nehme neue Eindrücke auf, „sauge auf“ und suche wie immer nach Details, wäge Lichtverhältnisse ab und schieße ein Foto nach dem anderen mit meiner Handykamera. Ich glaube, mehr als zwei Stunden bewege ich mich so durch die Stadt. Von außen betrachtet würde man wahrscheinlich sagen: Touristin. Aber ich verfolge damit etwas anderes.
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Es gibt hier einen Fernseher, mit dem ich über 50 Programme empfange, allesamt auf Ungarisch bis auf CNN. Auf Kanal 44 informiert mich CNN darüber, dass ein Projektil in ein Gebäude eines AKWS in der Ukraine (Saporischja) eingeschlagen hat. Es ist das größte Atomkraftwerk Europas. Keiner der Reaktoren sei direkt betroffen, es handle sich um ein Nebengebäude. Derzeit keine Strahlengefahr. Aber mir ist in diesem Moment zum Koffer packen und nach Hause fahren. In der Nacht davor wieder schlaflos bis nach vier Uhr. Das wird nicht einfach heute.
Wenig hier deutet auf die Corona-Pandemie hin. Einzig auf den Geschäftseingängen kleben Zettel mit der Aufforderung eine Maske zu tragen. (Eine Maske, nicht unbedingt eine FFP2-Maske.)
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Im Baum erspähe ich eine männliche Mönchsgrasmücke (ein sehr früher Rückkehrer), dann zwei Kohlmeisen und eine Ringeltaube lang und bedächtig auf einem der Äste sitzend. In einer Tierdokumentation (derzeit fällt mir nichts Besseres ein, als abends Tierdokus zu schauen, um besser einschlafen zu können) habe ich gesehen, wie ein Küken, das letzte unter seinen Geschwistern, ein Nachzügler, mit seinem Eizahn von innen ein Loch in die Eischale geschlagen hat. Es kann Stunden dauern, das Ei von innen aufzubrechen und zu schlüpfen.
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Ich besuche ein Handschuhmuseum, dem eine Manufaktur angeschlossen ist. In den Räumen kann man den Angestellten zuschauen, die einzelnen Produktionsschritte mitverfolgen, fast alles wird von Hand gemacht, das Zuschneiden, das Nähen. Es ist sehr warm im Raum (wie in einer Backstube) und zwei Männer laufen in Shorts und Socken herum. Und ich kann mir nicht helfen, aber die bunten Shorts wirken wie Unterhosen und vielleicht sind sie das. Alle scherzen miteinander und lachen und natürlich verstehe ich nicht, worum es dabei geht. Auf einer Schautafel im Museumsraum wird gezeigt, wohin die Lederhandschuhe exportiert werden. Russland wird als ein Hauptabnehmer angeführt. Ich denke, das könnte bald Geschichte sein.
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Bei einem anderen Ausgang des Zsolnay Kulturzentrums überquere ich auf einer Fußgängerbrücke die vierspurige Stadtautobahn und gehe Richtung Kodály Konzerthaus. Davor ist eine Grünfläche mit einem aufgelassenen Schwimmbad. Durch ein Loch im Maschendraht (Tilos!) schlüpfe ich ins Areal, fotografiere das leere Schwimmbad und Gebäuderuinen ringsum. Dann höre ich hinter mir eine Flasche über einen Betonboden rollen. Ich drehe mich um, ein Obdachloser liegt halb aufgestützt auf einem Ellenbogen auf dem Boden und rollt mit der freien Hand die Flasche hin und her. Schnell schlüpfe ich wieder durch das Loch und eile davon.
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Auf den Nachrichtenseiten lese ich, dass ab heute in Ungarn sämtliche Coronamaßnahmen aufgehoben sind. Das bedeutet auch keine Maskenpflicht mehr in Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich lese weiters: Ungarn hat 10 Millionen Einwohner, 44000 sind an Corona gestorben.
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S. schreibt, meinen Pflanzen gehe es gut, keine nennenswerte Post im Postkasten (also noch immer kein Brief vom Finanzamt). Sie habe eine anstrengende Woche in der Arbeit gehabt, die Spendenaktion für die Ukraine, Überstunden.
T. schreibt, sie sei beim Lesen der Lese-Hausaufgabe, die sie ihren Schulkindern gegeben hat, nach drei Seiten selber eingeschlafen. Und das Ergebnis des Biologietests: ein Wahnsinn, an die zehn Nicht Genügend, obwohl sie vorher die Fragen zum Test durchgegangen sind. Sie hängt ein Foto an von zwei Stühlen, die sie sich gekauft hat und mit neuem Stoff beziehen lassen will.
C. schreibt, sie stehe jeden Tag um sechs auf, schreibe, gehe ins Arboretum und habe einen Ausflug mit einem der Pater nach Györ gemacht, dort Seitenaltäre und Ikonen besichtigt.
M. schreibt, auch in S. sei die Maskenpflicht gefallen, sie sei dennoch in der Theatervorstellung mit Maske gesessen. In zwei Wochen fahre sie mit dem Rennrad-Club nach Italien.
L. schreibt nicht.
Ich schreibe S. und T. und C. und M. zurück und schreibe L. nicht.
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In eine Thai-Suppe in Ungarn gibt man Essiggurkerl hinein. Was für eine geniale Idee. Bin begeistert.
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Ich habe eine Besuchercard für sämtliche Museen auf dem Zsolnay Gelände und besuche das Zsolnay Museum und die Sammlungen. Ein paar wunderschöne Exponate. Lust, mich näher mit Keramik zu beschäftigen, Technik, Formen, Farben, Muster, Bemalung, Glasur, etc… In der Pink Exhibition, namensgetreu alles in pink: Schüsseln, Tassen, Vasen, Gefäße, Gebrauchsgegenstände, Salzfässchen, Tintenfässer und Gegenstände, die ausschauen wie Eierbecher, aber Zündholzanzünder sind mit gerillter Oberfläche seitlich. Ich kann mir schwer vorstellen, damit Feuer zu machen. Leider sind die Objekte eingeschlossen in Vitrinen und man darf sie nicht ausprobieren.
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Der Coverentwurf für mein im Herbst erscheinendes Buch ist fertig. Ich bin sehr froh darüber, dass ich beim Cover mitentscheiden durfte, dass E. dieses wunderbare Bild dafür gezeichnet hat.
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Ein Falke segelt relativ bodennah über der Fußgängerbrücke und stört und treibt einen kleinen Schwarm Vögel (Meisen oder Stieglitze) auseinander. Dann steht der Falke eine Weile in der Luft. Ein Turmfalke, denke ich, obwohl er mir größer vorkommt als „meine“ Turmfalken in Wien. Könnte das Nest ein Falkennest sein?
Singvögel und Sänger am Nachmittag. Ist es derselbe Sänger, der vor ein paar Tagen die Schubertlieder gesungen hat? Diesmal ist es jedenfalls definitiv Mozart. Ganz deutlich höre ich die deutschen Worte: der Vogelfänger… Es ist der 8.3., internationaler Frauentag, und ich höre den Vogelfänger singen:
…Ich Vogelfänger bin bekannt
Bei alt und jung im ganzen Land.
Ein Netz für Mädchen möchte ich,
Ich fing’ sie dutzendweis für mich
Dann sperrte ich sie bei mir ein,
Und alle Mädchen wären mein…
Auf dem Weg zu Coop („mein“ Supermarkt hier) kommt mir eine junge Frau entgegen. Sie hält eine einzelne, weiße Tulpe in der Hand, das Köpfchen umgeknickt.
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Kalkflecken auf dem Wasserglas und Essbesteck. 1 Bleistift. 1 Papierstoß. Durchgestrichene Sätze. Pfeile. Einfügungszeichen. Fragezeichen. Sonnenuntergang zwischen Fabrikschloten und noch kahlen Bäumen.
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Meine schon vor Monaten gebrochene, kleine Zehe zermürbt mich etwas. Gestern Nacht konnte ich schlecht einschlafen, weil sie sogar im Ruhezustand weh tat. In Ermangelung von Eis oder Coldpack improvisiere ich und lege einen Esslöffel in den Kühlschrank, um dann den gekühlten Esslöffel auf die geschwollene Zehe zu legen. Ein Placebo. Bringt mir aber dennoch Linderung und ich wiederhole den Vorgang ein paar Mal.
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Im Puppentheater auf dem Zsolnay Gelände befindet sich auch ein Puppenmuseum. Ich bin heute die Einzige, die sich das ansehen möchte. Man sperrt mir die Tür auf und macht das Licht an. Drei Räume. Gleich beim Eingang treffe ich auf meinen ersten Liebling: eine schiefergraue Hasen-Handpuppe aus den 1960ern prominent auf einem kleinen Podest präsentiert. Sie ist recht schlicht gestaltet, tapfer und tough wirkt sie auf mich. Etwas mitgenommen und lädiert schaut sie aus. Der Stoff ist abgewetzt, geflickte Stellen im Gesicht, große Stopfnähte. Ich gehe weiter von Raum zu Raum, Puppen, Figuren, Tiere, Gegenstände, Bühnendekoration aus mehr als einem halben Jahrhundert hängen von der Decke und an den Wänden und stehen auf dem Boden. Ich bewege mich zwischen ihnen, nie ganz sicher, ob ich wirklich die Einzige bin, die sich hier bewegt. Ob sich nicht in einem Winkel gerade etwas gerührt hat. An manchen Puppen gehe ich lieber schneller vorbei. Im letzten Raum finde ich meinen zweiten Liebling: The little man. Er trägt eine schmale Seidenhose und durchgeknöpfte Seidenjacke in derselben hellen Farbe mit Spitzenkragen, dazu einen Schlapphut. Sein Gesicht ist weiß geschminkt, übertrieben blauer Lidschatten, winziger Mund signalrot. Zart und verträumt-verloren wirkt er. Mir kommt Proust in den Sinn. Ich höre, wie die Eingangstür geöffnet wird und erwarte weitere Museumsbesucher. Aber es kommt niemand.
Beim Verlassen des Puppenmuseums könnte ich nicht sagen, ob hier jetzt jemand fehlt und lasse die Tür einen Spaltbreit offen.
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CNN Breaking News: In Tschernobyl ist die Stromversorgung unterbrochen, was bedeutet, dass die Kühlung bald ausfällt, was bedeutet, dass Radioaktivität austreten wird. Noch 48 Stunden.
Etwas später: die IAEO in Wien sagt zur Situation in Tschernobyl, es drohe derzeit keine unmittelbare Gefahr, es gäbe noch Zeit, die Kühlung werde noch einige Wochen mit Notstromaggregat halten, in der Zeit sollte allerdings die normale Stromzufuhr repariert und wiederhergestellt werden.
Es ist wieder 1986, ich bin wieder Kind und zu Besuch bei meinen Cousinen. Meine jüngste, vierjährige Cousine ermahnt mich, mich nicht ins Gras zu setzen wegen der Strahlen. Wir wollen nicht verstrahlt werden. Wo sollen wir spielen.
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In etwa Halbzeit hier in Pécs. In der Früh vereinzelt zarte Schneeflocken für ein paar Minuten. So spärlich, dass es niemanden auffällt, der nicht gerade danach Ausschau hält.
Im Baum eine Vierer-Bande von Stieglitzen, ihr schneller Morgengesang: laut und anhaltend, hastiges Zwitschern mit Trillern. Auf dem Boden zwischen den Büschen ein Amselhahn und Kohlmeisen, immer sind zwei oder drei Kohlmeisen dabei. Jazzige Klaviermusik vom Nebengebäude.
Am Nachmittag bei E. u. K. zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Sie erzählen ein bisschen über andere Schriftsteller*innen, die schon in Pécs residierten. Etwa von L.U., die unglücklicherweise die Stiege hinuntergestürzt ist und sich den Arm gebrochen hat. Notaufnahme, Krankenhaus. Am nächsten Tag Vortrag an der Uni und Bücher signieren mit Gipsarm. Oder von C. F., der jeden Tag zu Fuß in den Zoo spaziert ist, dort fast oder tatsächlich von den Erdhörnchen gebissen wurde. Ich frage, was ich in Pécs noch unbedingt sehen muss und E. holt einen Stadtplan und wir kennzeichnen die Orte. Und natürlich sprechen wir auch über den Krieg in der Ukraine. Ich weiß so wenig über dieses Land: z.B. wusste ich nicht, dass es eine zahlenmäßig gar nicht so kleine dort lebende ungarische Minderheit gibt. Der 15.3. ist in Ungarn ein Nationalfeiertag. K. organisiert mir eine Konzertkarte für das Kodály Konzerthaus. E. packt mir noch Kuchenstücke zum Mitnehmen ein.
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Ein Wegweiser ragt vor mir auf mit Schildern in Rot: nach Tettye, zur Kathedrale, zur Moschee, zur Synagoge, zur Post, zum Csontváry Museum, zur Pécs Galerie, zum Lenauhaus, zum Elefanten, zum Einkaufszentrum, zum Zoo, etc… Es sind Behauptungen und Benennungen an einem in die Erde gerammten Pfosten, die Richtungen sind vorgegeben. Ich folge also einem dieser Pfeile, aber die Straße nimmt nach einer Weile einen anderen Verlauf, ich verlaufe mich und gehe wieder zurück zum Wegweiser, den in der Zwischenzeit ein Windstoß herumgedreht haben muss. Ich folge wieder der Pfeilspitze eines roten Schildes, aber die Straße endet in einer Sackgasse. Und wieder gehe ich zurück zum Wegweiser. Jemand hat die Pfeilspitzen abgebrochen. Ich nehme irgendeinen Weg, den ich noch nicht ausprobiert habe, gehe bis es dunkel wird, folge dann den Straßenlaternen. Ein Hund läuft mir hinterher. Jedes Mal, wenn ich mich nach ihm umdrehe, ist er ein Stück größer geworden. Dann sind es auf einmal zwei. Hat er sich geteilt.-
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B. meldet sich mit dem Vorschlag, sich morgen oder übermorgen zu treffen. Ich antworte: gerne übermorgen Nachmittag ein Stadtspaziergang.
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Die Klaviermusik jetzt gerade ist nicht ganz zuordbar, aber interessant. Es klingt fast, als würde jemand komponieren, sich dabei langsam vortastend. Von Akkord zu Akkord hört mein Ohr mit bzw. hört schon voraus, wie der nächste Akkord klingen könnte.
Eine Ringeltaube ganz nah im Baum, sie hüpft den Ast entlang bis knapp vor mein Fenster, nur 30 cm trennen uns voneinander. Ihre weißen Nackenflecken, ihr gelb umrandetes Auge. Ich hinter Fensterglas, sie auf dem Ast. Sie sieht mich, aber „als was“ nimmt sie mich wahr. Ich bin so auf diese eine Ringeltaube konzentriert, dass ich eine zweite etwas oberhalb am Ast nicht sofort bemerke. Diese zweite Taube sperrt immer wieder ihren Schnabel weit auf, als wolle sie etwas heraufwürgen. Ich kann ihre Vogelzunge sehen (orange-rosa). Mein Griff nach der Handykamera löst den Moment auf.
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Handschriftliche Notizen wären im Prinzip eine gute Idee, wenn ich meine Handschrift nach zwei Tagen noch lesen könnte.
Wie ausgemacht treffe ich B., einen Dichter aus Pécs, vor der horse statue am Hauptplatz. Es ist sonnig, aber nur ein paar Grad über Null. Wir starten unseren Stadtspaziergang Richtung Süden, vorbei an der Synagoge über einen Platz weiter zur Post (mit Zsolnay Dach). Dann, auf meine Bitte hin, zeigt mir B. die Redaktionsräume von Jelenkor, eine der ältesten Literaturzeitschriften Ungarns, wo er auch arbeitet. Wir treffen den Chefredakteur Z., er spricht Deutsch und erzählt ein wenig über die Zeitschrift, ich blättere eine deutsch-ungarische Ausgabe aus den 90ern durch, auf dem großen Tisch steht eine weiße Tischlampe in Form eines Champignons oder Atompilzes.
Wir setzen unsere Stadttour fort, vorbei an B.s ehemaligem Gymnasium, den weiten und fast leeren Platz hoch zur Kathedrale und hinein. Wir erklimmen die 133 steilen Holztreppen den Turm hinauf. Rundumblick über Pécs. B. weiß viel über die Stadt, in der er aufgewachsen ist, wo er sehr gerne lebt. Er hatte auch einmal ein research fellowship für Wien, sein Interessens- und Forschungsgebiet ist die ungarische Avantgarde. Wir spazieren durch die Gassen, reden, die Zeit verfliegt. Am Ende kommen wir an Bs Volksschule vorbei, sie liegt gegenüber vom Gefängnis. B. erzählt, als er ein Kind war, sei einmal ein Gefangener ausgebrochen und sie durften nicht rausgehen, mussten alle drinnen bleiben. Aber das sei nur ein Mal vorgekommen.
Später schreibt er mir, ich solle ihm Gedichte schicken, vielleicht ließe sich etwas arrangieren, diese ins Ungarische zu übersetzen für eine Publikation in Jelenkor oder online. Das will ich gerne tun.
Am Abend ruft meine Mutter vom Handy meines Vaters an. Ganz ähnliches Gespräch wie letzte Woche. Ein hinzugekommener Corona-Fall in der Familie, milde Symptome. Ich bin müde von der Kälte und tue den ganzen Abend nichts mehr.
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Wie immer nach dem Aufstehen: Wasserkocher befüllen, TV einschalten, CNN. Die Headline, es geht zum ersten Mal nicht sofort um die Ukraine, keine Sondersendung, sondern die Wheater in Focus-Seite: A rainbow fills the sky as the storm moves away. Dazu ein Landschafts- bzw. Wetterbild. Und ich wünschte diese Headline wäre ein Orakelspruch: Es soll gelten: A rainbow fills the sky as the storm moves away.
Gedankenverloren ziehe ich mich vorm Fenster an, schaue zum Nest hoch, in dem sich noch immer nichts regt, als ich zwei menschliche Augenpaare auf mich gerichtet bemerke. Am Wochenende spazieren um diese Zeit schon Ausstellungsbesucher durch die Schauräume im Trakt gegenüber. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich ziehe den Vorhang zu.
An diesem langen Feiertagswochenende trudeln größere Reisegruppen ein. In Herden ziehen sie von Platz zu Platz, grasen die Sehenswürdigkeiten ab. Auch das Gästehaus füllt sich mit Familien mit Kleinkindern. Und deren Leben spielt sich nicht nur in den Apartments ab, sondern auch am Gang, vor der Tür, im Stiegenhaus. Ein Kleinkind nebenan hat gerade die Türklingel entdeckt und drückt mit Begeisterung und Ausdauer immer wieder drauf. Ob es die Hundert schafft? Zuzutrauen ist es ihm… Ich versuche zu lesen. Ich versuche zu schreiben. Ich versuche und lasse es bleiben, packe mein Zeug.
Nachmittags spaziere ich zu den Ruinen von Tettye. Die Sonne wärmt, ich schlüpfe aus der Winterjacke. Ein paar wenige Bäume blühen. Um zwei Uhr steht der zunehmende Mond schon blass im strahlendblauen Himmel. Ein paar Jungs auf ihren Mountainbikes üben Sprünge. Die meisten Besucher kommen mit Autos hier heraufgefahren, das lässt sich an ihrem Schuhwerk ablesen, und dass sie keine Tasche, keinen Rucksack dabeihaben. Auf einem nahen Felsen ein großes Kreuz mit Christusfigur. Zwei Personen gehen gefährlich nah zur Felskante vor. Eine davon setzt sich vorsichtig ins Gras. Von unten klettert eine Person den Felsen hoch, lässt sich dann ins Seil fallen.
Ein Mann befüllt die auf den Bäumen ringsum aufgehängten Vogelhäuser mit Futter aus mitgebrachten Plastiksäcken. Als er bemerkt, dass ich ihn dabei beobachte, nickt er mir zu. Von Vogelfreund zu Vogelfreundin. Über uns der Ruf eines Raubvogels.
Auf dem Heimweg sehe ich am Stadtrand dichte, schwarze Rauchsäulen stehen. Irgendein größeres Gebäude muss dort brennen, eine Fabrik vielleicht.
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Laubbläser im März. Nirgendwo hier wächst auch nur ein einziges Blatt, wie könnten sie dann auf Gehwege fallen. Der Gärtner muss Surrealist sein, er saugt nicht existente Blätter vom Boden auf.
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Ich gönne mir und meiner gebrochenen Zehe den Luxus mich von einem Taxi in den Zoo chauffieren zu lassen. Der Fahrer spricht Deutsch. Nein, nicht in der Schule habe er es gelernt, sondern in Deutschland, wo er in München gearbeitet hat, beim Bau der U-Bahn, und danach viele Jahre in Lübeck als Kellner. Ein halbes Jahr Saisonarbeit, den Rest des Jahres sei er dann gereist. 78 Länder habe er bereist. Ich kenne meine eigene Zahl der bereisten Länder nicht, aber es sind sehr viel weniger. Ich fange nicht an nachzurechnen. Ich denke, die mir wichtigen Dinge, lassen sich an einer Hand abzählen.
Im Zoo gerate ich sofort in einen Zwiespalt zwischen meiner Faszination für Tiere und meinem Bedauern über ihr Eingesperrtsein. Das ist auch der Grund, warum ich nur noch selten in den Zoo gehe. Die Tiere tun mir einfach leid. Vor allem das erste Gehege für die zwei Leoparden kommt mir viel zu klein vor. In einem anderen läuft eine Hyäne im Galopp von Mauerecke zu Mauerecke. Dabei richtet sie sich mit den Vorderpfoten an der Mauer auf, stößt sich ab und läuft in die andere Richtung bis zur aufhaltenden Mauer, stößt sich wieder ab, läuft wieder zurück, unzählige Male. Herzzerreißend ist auch der Anblick eines Affen allein auf einem Stein kauernd. Ganz in sich versunken wirkt er traurig und verlassen. Ich bleibe eine Weile bei ihm stehen, versuche durch sanftes Zureden seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, aber er bleibt in seiner Haltung. Dann kommen die anderen Affen mit Tempo und Schwung durch einen Ausgang in den Außenkäfig. Ein paar haben ein Stück Frucht in der Hand, sie klettern, laufen, interagieren miteinander. Der einzelne Affe auf dem Stein schrumpft noch weiter zusammen, rührt sich nicht, wagt nicht den Kopf zu heben, ganz unterwürfig und voll Scham. Hat er etwas ausgefressen? Warum ist er nicht Teil der Gruppe und wird von den anderen ignoriert und ausgegrenzt? Was hat dieses soziale Aus bewirkt?
Ich verlasse den Pécer Zoo und nehme die zwei Leoparden, die Hyäne, den ausgestoßenen Affen und noch ein Kamel mit, das auf mein Zurufen zu mir getrabt ist. Als wir uns am Ausgang durch die Schranken quetschen, vorbei an der Kassiererin, wirft sie uns einen prüfenden Blick zu. Ich sage, ich sei hier in Pécs als Writer in Residence und das hier gehe schon klar. Sie stoppt uns dennoch und holt meine Aktenmappe mit meinem 14-Seiten-Vertrag hervor, geht die Paragraphen durch, findet keinen Eintrag, der es mir untersagen würde, Tiere aus dem Zoo mitzunehmen und winkt uns durch.
Auf den steilen, abschüssigen Straßen steigen wir vierbeinig und zweibeinig zur Stadt hinunter. Ein durch die Umstände zusammengewürfelter Haufen ohne einen Platz, ohne Zugehörigkeit. Auf dem Weg stellen wir uns die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Was tun mit der wiedererlangten Freiheit? Niemand wartet auf uns. Ein Leben wie jenes unserer Artgenossen ist uns mit unseren Erfahrungen und Geschichten nicht zugänglich. Einer der zwei Leoparden verabschiedet sich von der Gruppe, dreht um und läuft den Hügel zurück. Wir sind schon seit Jahren kein Paar mehr, sagt der bei der Gruppe gebliebene Leopard. Aber wie soll man getrennte Wege gehen, wenn man im selben Käfig steckt. Ich weiß, was sie jetzt vorhat. Ich kenne ihre Rachefantasien. Ich kenne ihre Entschlossenheit. Es wird blutig werden. Erst wird sie mit einem der Wärter abrechnen, dann geht es weiter bis in die höchsten Kreise…Wir kommen dem Stadtzentrum immer näher. Was nun also? Angesichts der Lage und unserer Möglichkeiten, bleibt uns eigentlich nur, eine Band zu gründen, sagt das Kamel. Hat es das nicht schon irgendwo gegeben? sagt die Hyäne. Na und? Das hier ist Pécs und nicht Bremen, sagt das Kamel. Ja, schon klar. Du bist ja auch kein Esel, oder? sagt die Hyäne. Das wird etwas völlig anderes. Lasst es uns tun, sagt der Leopard. Die Begeisterung für die Idee einer Bandgründung steigt. Dann spricht der Affe, mein Sorgenkind, mein Herzensrührer, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick: Ich weiß nur nicht… Ich weiß nur nicht, ob ich das mit einem Menschen machen kann…oder will. Kurzes Schweigen. Was soll dann mit ihr passieren? Was machen wir dann mit ihr? Leopard, Hyäne, Kamel und Affe stellen sich in einem Halbkreis vor mir auf. Ich soll meinen Wert als Mensch unter Beweis stellen. Es wird dunkel über Pécs.
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Live-Ticker: Die Fluchtkorridore halten nicht. Zivilisten können nicht aus den Kampfgebieten evakuiert werden.
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Telefoninterview auf Englisch mit R., einer freundlichen, interessierten Journalistin von Dunántúli Napló, wir reden fast eine Stunde, viele Fragen: What impact can literature have on people's lives…?
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Mir wird eine E-Mail weitergeleitet, ich solle mich zu einer gewissen Stunde im Puppentheater einfinden. Ein Algorithmus habe berechnet, dass ich einen Literaturpreis, eine Auszeichnung erhalten solle. Im Puppentheater suche ich das Sekretariat auf, wo mich eine hektische Person empfängt, die schon auf mich gewartet hat, obwohl ich überpünktlich bin. Sie redet mit Worten auf mich ein, die ich nicht verstehe und lässt mich nicht zu Wort kommen, in keiner Sprache. Sie weist mich an, meine Schuhe auszuziehen. Dann zieht sie mich an meinem Arm ins nächste Zimmer und schubst mich auf eine Bodenwaage. Mein Gewicht wird von einem Assistenten abgelesen und notiert. Ich frage, wozu ? Das sei notwendig für die Zeremonie, wird mir gesagt. Der Assistent hat auch ein Zentimeterrollband, das er mit Schwung entrollt und damit meine Größe misst. Ich erhebe Einspruch, werde aber ignoriert und von weiteren Assistenten umringt. Sie heben mich auf ein Podest, rollen kleine Tische mit Werkzeugen heran, krempeln mir die Hosenbeine und Ärmel hoch. Ich protestiere lauter und betone, ich wolle sofort mit meinem Koordinator K. sprechen. Ich wiederhole seinen Namen mehrmals. Ja, ja, sie nicken. Er werde gleich kommen. Und dann geht alles sehr schnell, routiniert, fingerfertig. Fäden werden gemessen, geschnitten, geknüpft und geschickt verknüpft mit meinen Gliedmaßen. Und schon hänge ich in den Seilen. Alle Fäden laufen zusammen zu einem Holzkreuz, das über meinem Kopf aufgehängt wird. Die Assistenten wirken sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, die hektische Person triumphiert. Das ist perfekt, sagt sie. Gleich wird der Puppenspieler kommen. Ja, der Puppenspieler höchst persönlich. Und da kommt er auch schon herein: ein dicker Mann im grauen Anzug, flaches Germteiggesicht mit breiter, oranger Fliege um einen nicht vorhandenen Hals gebunden. Eine Dichterin, sagt er und schüttelt den Kopf. Dafür bin ich extra aus Budapest angereist… Er verpasst mir Haken und Öse am Kinn, es tut kurz heftig weh, mein Unterkiefer klappt nach unten, der Puppenspieler fädelt rasch einen Faden durch, zieht daran und mein Mund klappt zu.
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Abreisetag... In Pécs hat es nie geregnet. In Pécs sind die Autos immer vor Zebrastreifen stehen geblieben, um mich die Straße überqueren zu lassen. In Pécs habe ich Ohrringe verloren, die ich später in Wien wiederfinde. In Pécs hat mir ein Vogel seine Meinung gepfiffen. In Pécs hat mir meine Eitelkeit ein Bein gestellt. In Pécs habe ich auf Social Media ein Bild gepostet, das eine Person geteilt und 20 geliket haben. In Pécs sind viele Nachrichten bei mir angekommen und eine ist ausgeblieben. Ich werde hier nicht mehr miterleben in welcher Farbe der Baum vorm Fenster erblüht, wer ins Nest einzieht, wie die Prinzen aufgeweckt und die Brunnen befreit werden und auch nicht den Ausgang der bevorstehenden Wahlen.